"Tradition ist die Bewahrung des Feuers, nicht die Anbetung seiner Asche."
Treffender können wir es einfach nicht formulieren. Das Schuhmacherhandwerk war über Jahrtausende immer Ansprechpartner für jeden der ein Problem mit seinen Schuhen hat. In der mehrjährigen Ausbildung in Anatomie, Gerbverfahren, Ledersorten, Gummiherstellung, Klebstoffen, orthopädischen Zurichtungen, Herstellungsverfahren und vielem mehr wird das über Jahrhunderte gesammelte Wissen vermittelt. Aus vielen Schuhmacherbetrieben haben sich Schuhgeschäfte, Orthopädieschuhmacherbetriebe oder gar Schuhfabriken entwickelt.
Eine Besonderheit unseres Unternehmens ist, das wir von den Anfängen bis heute unserem Handwerk treu geblieben sind. Auch wenn das Schuhmacherhandwerk - zu Unrecht - von Zeit zu Zeit kein hohes Ansehen genießt, zufriedene Besitzer hochwertiger Schuhe waren für gute Arbeit immer dankbar.
Der erste Schuhmacher in unserer Familiengeschichte war mein Urgroßvater Conrad Brill, geboren am 4. März 1873, in Saargemünd (Sarreguemines, Frankreich). Alle Vorväter, wir konnten das bis 1772 zurückverfolgen, hießen ebenfalls Konrad. Es handelte sich damals scheinbar um ein übliches Namensvergabesystem.
Conrad zog mit seiner Frau Karoline nach Wiesbaden und wählte den Beruf des Schuhmachers. Zur damaligen Zeit eine häufige Wahl, der Bedarf an Schuhmachern und Schuhreparaturen war sehr groß.
von links nach rechts:
Mein Großvater Konrad (10), Vater von Helga Baumbach, Großonkel Siegfried (12, der mich noch bis 1996 in meiner Schuhmacherei in Bierstadt besucht hat), die Urgroßmutter Karoline Brill (36), Großonkel Jean (8), Urgroßvater Conrad Brill (42) mit Mütze und Großtante Elisabeth (16), die später zusammen mit Ihrem Mann ein Lebensmittelgeschäft in Hamburg betrieb. Nach dem Tod Ihres Mannes kehrte Sie wieder nach Wiesbaden zurück. Zuletzt lebte Sie im Pflegeheim in Biebrich, zu Ihr führten während meiner Kindheit viele Familienbesuche.
Alle drei Söhne wurden Schuhmacher.
Am 1. Januar 1901 gründete mein Urgroßvater Conrad Brill (Mit Hut) seine Schuhmacherei in der Moritzstrasse 60. Das Geschäft wurde von ihm zusammen mit seiner Gattin Karoline bis 1945 geführt.
Die Führung der Handwerksrolle wurde zum 1.4. 1929 zwingend per Gesetz eingeführt, die Meisterprüfung legte er sogleich im Jahre 1930 ab. Laut Handwerksrolleneintragung wurden Schuhreparaturen ausgeführt.
Und nein, dieses Bild wurde nicht im wilden Chicago der zwanziger Jahre aufgenommen sondern in den ebenfalls wilden 1930er Jahren vor dem Geschäft.
1929 gab es Strassen mit bis zu 8 Schuhmachern, Täschner und Sattler nicht mitgerechnet. Man hatte oft auf 50 Metern die Auswahl unter bis zu 5 Schuhmachern und musste dazu nicht weit laufen.
Für die große einfarbige Gemeinschaftswerbung wurde ein Klebeband mit der Adresse aller vier Familienbetrieb eingesetzt, von dem eine letzte Rolle sich bis heute erhalten hat.
Heute sind davon noch 4 "echte" Schuhmachereien in Wiesbaden und unsere in Bierstadt übrig.
Vom 1. Juli 1928 bis 1972 befand sich das Geschäft von Siegfried Brill (links) in der Grabenstraße 20. Zusammen mit 2 Gesellen wurden hier vor allem Schuhe repariert. Auch sein Neffe, der Sohn des Bruders Konrad Brill ging hier zur Lehre. Zur Ausbildung war er durch Ablegung der Meisterprüfung seit dem 27.2.1936 berechtigt.
Zu dieser Zeit legte man großen Wert darauf, das die Versorgung der Schuhe der Bevölkerung mit einwandfreiem Schuhwerk gewährleistet blieb. Und bezog sich damit auch auf die Reparatur, denn der Neukauf war vor allem finanziell ein weitaus größeres Übel als heute. Denn heute „müssen (wir) für ein ordentliches Paar neue Schuhe im Schnitt nur einen Tag arbeiten“ (Franz Rother 2014, WirtschaftsWoche). Damals musste man für ordentliche Schuhe - etwas anderes gab es nicht - eher eine Woche oder noch länger arbeiten.
Der Betrieb war durch die hohe maschinelle Produktivität „u.k." (unabkömmlich). Mit dieser Bezeichnung wurden Betriebe benannt, „deren Fortbestand ... durch die Einberufung zur Wehrpflicht gefährdet" gewesen wäre. Daher wurde der Inhaber nicht in die Armee einberufen. Die hohe maschinelle Produktivität bezieht sich sicherlich auf die moderne Schuhreparaturmaschine, von der auch zwei Bilder erhalten sind. Diese Maschine war sogar im Fragebogen zur Handwerksrolle aufgeführt, die Leistung und „Zahl der Kraftmaschinen“ betrug 1 PS.
Diese Einstufung „u.k.“ bezog sich nicht nur auf die Bevölkerung, sondern auch auf die Versorgung der Soladaten. So kam es vor, das der Betrieb auch mal ein oder mehrere Tage für die Kunden geschlossen blieb, um einen großen Satz Schuhe für die Soldaten neu zu besohlen und zu nageln.
Der etwas ungepflegte Eindruck der äusseren Fassade ist dem geplanten baldigem Abriss geschuldet. Schon in den Zwanziger Jahren existierten Pläne, das Altstadt-Schiffchen von Grund auf zu modernisieren. Die Gewerberäume waren besonders günstig zu mieten, da voraussehbar war, das die Häuser "demnächst" abgerissen werden. Häufig verschoben und dann verworfen, landete ausgerechnet die Grabenstraße 20 dann tatsächlich auf der Liste der wenigen betroffenen Häuser. Mitten durch die ehemalige Werkstatt von Großonkel Siegfried führt heute eine Passage in die Wagemannstraße.
Jean Brill gründete sein Geschäft am 1. August 1931 in der Hellmundstrasse 31, in diesem Haus befindet sich heute die Firma Schilder Stark. Unterbrochen von einem "Gastspiel" in der Gartenbauzentrale (seine Frau kam aus einer Gärtnerfamilie) arbeitete er ab 1950 in der Helenenstrasse 31, von 1957 - 1962 dann in der Walramstrasse 19. Eine Ansicht eines der Geschäfte haben wir leider (noch) nicht.
Jean war auch unter den Namen Anton und Hans bekannt. Diesen Namenswechsel legte der Lehrer schon in der Schulzeit den Eltern nahe, denn mit dem französischen Vornamen „Jean“ trug er einen Vornamen in der Sprache des Landes, mit dem man sich von 1914 bis 1918 im Krieg befand. Das Bild zeigt Jean ganz rechts im Bild. Konrad Brill (ganz links) muss wohl gerade eine Uhr (etwas änliches wie eine iWatch) geschenkt bekommen haben.
Auch werbetechnisch auf dem neuesten Stand: Siegfried und Konrad Brill schalteten wohl Anfang der 60er Jahre gemeinsame Anzeigen in der Zeitung. Die Druckvorlage hierfür wurden damals noch von Hand gezeichnet.
Lange Zeit blieben Sie zu zweit, von 1994 bis 1996 waren dann immerhin wieder 3 Schuhmachereien in Wiesbaden Familienbetriebe:
Konrad Brill in der Saalgasse 4
Siegfried Brill in der Nerostrasse 11
Andreas Baumbach in der Poststrasse 27
Ebenfalls im Jahre 1928, am 2. Januar, gründete mein Großvater Konrad Brill die Schuhmacherei in der Saalgasse 24. Seinen Meisterbrief machte er am 15.7.1937, sein Sohn am 15.2.1955. Das Bild wurde ca. 1960 aufgenommen und zeigt ihn 55-jährig mit seinem Sohn Konrad Brill, damals ca. 30 Jahre alt. Bedient wurden die Kunden von meiner Oma Lina Brill. Nach dem Tod des Vaters 1963 führte mein Onkel Konrad Brill die Schuhmacherei bis 2008 weiter.
Sehr schöne Bilder und Anekdoten porträtieren meinen Onkel Konrad Brill und seine Werkstatt in dem Buch "Wiesbadener-Charakterköpfe(m)einer Stadt" von Monika Werneke und Sabine Hampel.
In der Zeit von 1985 bis 1993 war das Gebiet am Kranzplatz / Kochbrunnen auf 150 Metern mein handwerklicher „Ausbildungs-Brennpunkt“: Nach der Arbeit in der Schuhmacherei im Staatstheater Wiesbaden konnte ich auf dem Nachhauseweg wahlweise mit dem Onkel in der Saalgasse fachsimpeln.
Oder 50 Meter weiter links in der oberen Webergasse mit Anton Weinl, Maßschuhmacher und jahrzehntelang Obermeister der Schuhmacherinnung Wiesbaden. Der Weg führte des öfteren ebenso in die Nerostrasse 11 zum Großonkel Siegfried Brill.
Die Themen waren unerschöpflich:
Schuhe, Schuhe, Schuhe.
Lehrjahre sind keine Herrenjahre.
Im Fall von Andreas Baumbach waren es darüber hinaus auch Theaterjahre. Also beides. 1985 begann die Ausbildung, 1989 folgte die feste Anstellung als Schuh- und Schäftemacher.
Neben den üblichen Reparaturen kommen hier sehr viel außergewöhnliche Arbeiten auf den Schuhmacher zu. Bei Reparaturen wird auch im hoffnungslosesten Fall noch unmögliches möglich gemacht. Das Theater schärft auch den schuhmodischen Blick auf die Jahrhunderte von Römerzeit über Rokoko, Barock und die goldenen 20er. Alles halb so wild.
Sehr lehrreich war auch die intensive Zusammenarbeit mit dem Balletcorps unter der Leitung von Ben Van Cauwenbergh. Naturgemäß haben Balletttänzer besonders hohe Ansprüche an ihr Schuhwerk, es ist ihr Werkzeug.
Andreas Baumbach (29) vor seiner Schuhmacherei zur Eröffnung am 1.7.1994. Damals hatten wir unsere Geschäftsräume noch in der Poststrasse 27, der Umzug in die größeren Räume in der Poststrasse 17 erfolgte 1997. Unsere lange Familientradition war uns natürlich schon vor der Eröffnung bekannt, das genaue Gründungsdatum aber nicht. Anlässlich unserer Recherchen hat uns die Handwerkskammer Wiesbaden darauf hingewiesen, das wir unser Geschäft aufgrund der lückenlosen Familientradition nach den rechtlichen Regelungen als „gegründet 1901“ und damit gleichzeitig auch älteste Schuhmacherei Wiesbadens bezeichnen dürften.
Natürlich wird im Jahre 2014 keine Absatzreparatur besser, weil der Urgroßvater schon im Jahre 1901 Schuhmacher war. Doch wer schon als fünfjähriger Bub beim Onkel viele Stunden in der Schuhmacherwerkstatt verbracht hat, Lederkisten durchforschte, beim Kleben helfen durfte und Maßschuhgeschichten erfuhr, fängt glücklicherweise auch nicht „bei Null“ an. So haben die Erfahrungen der Älteren uns sicher vor mancher Dummheit bewahrt. Konservativ sind deswegen aber nicht, im Gegenteil. Auch Innovation gehört zu unserer Tradition, wie der Lederhändler mal erzählt hat: „Wenn es einen neue Maschine gab, dann haben die Brills sich als erstes dafür interessiert".